Kapitel 1: Um was es geht – Studierzeit dieses Abschnitts: ca. 20 Minuten
Das Präsenzstudium erweist sich für Menschen, die sich zu variablen Zeiten um Aufgaben im Job oder um die Familie kümmern müssen, als immer weniger produktiv. Eine bloße Verlagerung der Kontaktzeiten ins Internet, also in live stattfindende „Virtual Classrooms“ mittels Meeting-Software, stellt dazu aber noch keine Alternative dar, denn die Ort- und Zeitbindung der Lehrveranstaltungen wird dadurch nicht beseitigt.
Daher könnte das „Flipped Learning“ als die systematische Verknüpfung asynchroner Lernangebote mit den Kontaktzeiten des synchronen Präsenzstudiums bessere Möglichkeiten bieten, zumal für vielfältig eingebundene Studierende.
Die gewohnte Vorgehensweise:
Live vorgetragen – vielleicht nachbereitet…:

Üblicherweise erwartet die Studierenden während der Lehrveranstaltung ein live stattfindender Vortrag des Dozenten – die „Vorlesung“.
Die Vorteile lassen sich so beschreiben:
- Die Studierenden können schon während des Vortrags jederzeit nachfragen.
- Sie können auf ihren ausgedruckten, vorab bereitgestellten Materialien live ergänzende Notizen machen.
Allerdings kennzeichnen erfahrungsgemäß auch viele Nachteile das synchrone Lehren:
- Die Studierenden sind vielleicht müde, abgelenkt, in Gedanken – der Vortrag fließt an ihnen vorbei.
- Sie haben Nachfragen, unterbrechen daher direkt den Vortrag – andere haben diese Nachfragen nicht, fühlen sich ausgebremst.
- Sie sind mitunter erkrankt oder beruflich an der Teilnahme verhindert – und haben bald spürbare „Löcher“ in ihrem Wissen und Können.
- Sie müssen auf jeden Fall nacharbeiten, daheim oder sonstwo – haben dann aber meist nicht mehr genug „auf dem Schirm“; das stresst.
- Für die Prüfung, sofern Klausur, steht daher häufig das berüchtigte „Bulemie-Lernen“ an.
Live via Internet: oft nicht möglich
Rein Internet-basiert durchgeführte Lehrveranstaltungen, die live stattfinden, weisen die Nachteile der üblichen Vorlesungen gleichfalls auf.
Erschwerend kommt hinzu, dass „Live-Televorlesungen“ eine enorme zusätzliche Barriere mit sich bringen. Denn während den Studierenden zur geplanten Kontaktzeit in der Hochschule bei herkömmlicher Lehrweise zumindest ein geeigneter Raum zur Verfügung steht, in dem ungestört gelehrt und diskutiert werden kann, ist dies bei einer online durchgeführten Live-Veranstaltung nicht sichergestellt:
Weder daheim noch am Arbeitsplatz kann davon ausgegangen werden, dass genau zur Zeit der vorgesehenen Live-Schaltung eine Online-Teilnahme störungsfrei bzw. gar überhaupt möglich ist.
Das „umgedrehte“ Lehren und lernen:
Individuell abgerufen und gemeinsam nachbereitet:

Individuell abrufbare Online-Lerneinheiten hingegen haben den Vorteil der örtlichen und zeitlichen Unabhängigkeit und versprechen zudem bessere Lernergebnisse.
Der Input wird in Form eines aufgezeichneten Vortrags oder anderer Materialien vom Dozenten z. B. bereits eine Woche vor der nächsten Präsenzveranstaltung online bereitgestellt – man spricht hierbei vom Inverted Classroom oder vom Flipped Learning.
Während der Kontaktzeit – die in diesem Falle also nicht entfällt – erfolgt in der Hochschule, im Seminarraum durch Nachfragen, Diskussion, Vertiefung und Anwendungsbeispiele die Nachbereitung des Stoffs.

Beispiel-Lektion: fünf Teile, jeweils mit Arbeitsfragen endend, plus Übung
Die Vorteile dieser asynchronen Lehrmethode:
- Die Studierenden können sich auf den jederzeit abrufbaren Vortrag einlassen, wann und wo es ihnen passt: daheim, im Zug, während ihrer Pausezeiten, in der Bibliothek…
- Treten Ablenkungen oder Störungen auf, unterbrechen sie und steigen wieder ein, wann immer sie selbst es wollen.
- Sie können zurückspulen, wiederholen – und ihre Notizen auf den ausgedruckten Materialien in Ruhe korrigieren bzw. ergänzen.
- Sie bekommen optimalerweise stets Arbeitsfragen, denen sie recherchierend nachgehen sollen.
- Sie sind für die folgende Lehrveranstaltung gut vorbereitet – viele Verständnisfragen haben sich erledigt, da sie selbst vorher in passenden Quellen recherchieren konnten; ihre Fragen gehen nun mehr in die Tiefe.
- Für die Prüfung, sofern Klausur, steht kein „Bulemie-Lernen“ mehr an, denn sie haben’s bereits „intus“.
Als nachteilig könnte festgehalten werden, dass Studierende aufgrund der geringeren Notwendigkeit seltener zu den Lehrveranstaltungen kommen. Sie werden aber nicht mehr „den Stoff verpassen“ müssen, wenn sie fehlen.
Für die nächste Präsenzveranstaltung gut vorbereitet sein zu müssen bedeutet eine Förderung des Selbstlernens, das bei Berufstätigen meist alleine stattfindet und nicht gemeinsam mit den Mitstudierenden.
Der Kompetenzgewinn:

Vorausgesetzt, dass die Studierenden sowohl die abrufbaren Angebote als auch die wöchentlichen Kontaktzeiten nutzen, ist ein höheres Kompetenzniveau der Lernergebnisse erwartbar. Die Bloom’sche Pyramide zeigt, welche Kompetenzniveaus von unten nach oben wachsen sollen. An den Schlüsselwörtern erkennt man die Ergebnisse jeder „Etage“.
Was leistet Flipped Classroom dabei? Durch die bereitgestellten Input-Angebote erarbeiten die Studierenden selbst bereits mindestens die beiden untersten Ebenen:
- „Wissen“ vermitteln ihnen bereits die zuvor aufgezeichneten Vorträge;
- Sie vertiefen eigenständig und gemäß ihren persönlichen Notwendigkeiten durch ergänzende Literatur und Recherchen – erreichen dadurch die zweite Stufe: „Verständnis“.
In den gemeinsamen Meetings, den Lehrveranstaltungen, arbeiten sie gemeinsam mit den anderen Studierenden und dem Dozenten an den darüber liegenden Stufen: „Anwendung“, „Analyse“, „Synthese“ und „Beurteilung“ – je nach den im Modulhandbuch niedergelegten Kompetenzzielen des Moduls.
Paradigmatisches
Während sich „Massive Open Online Courses“ (MOOC) an eine breite Öffentlichkeit wenden und eine entsprechende inhaltliche Breite realisieren müssen, um für viele interessant zu sein, richtet sich das Konzept des „Inverted Classroom“ bzw. „Flipped Learning“ an spezifische Gruppen mit vertieften Inhalten.
Allerdings können MOOC-Bestandteile meist problemlos für die Inputphasen bei der Didaktik des Flipped Classroom verwendet werden.
„E-Learning“ sollte sich zumindest bei Präsenz-Studienangeboten auf „On-demand“-Angebote konzentrieren, nicht aber als Ersatz für Präsenzveranstaltungen dienen.
Denn für reine Fernlehrveranstaltungen wie „Televorlesungen“, deren Lernerfolge kontrolliert werden, müsste sowohl eine entsprechende Akkreditierung erlangt sein als auch gemäß FernUSG eine Zulassungspflicht durch die ZFU bestehen.
Diese Notwendigkeiten entfallen aber dem hier vorgestellten Modell des „Inverted Classroom“. Zu beachten ist dabei lediglich, dass die voraufgezeichneten Lektionen nicht mehr als 50 Prozent der Lehre ausmachen.